Hubmersberg
Allein unter Kühen
MATTHIAS (Flüchtlingslager Hubmersberg), Freitag 10.10.14, 15.00 Uhr: Unser zweiter Besuch des Tages führt uns durch die idyllische Landschaft des Nürnberger Landes. Nachdem wir mit unserem Wohnmobil einen kleinen Hügel erklimmen mussten, erblicken wir den Weiler Hubmersberg. Eine kleine Ansammlung von bäuerlich anmutenden Häusern, teilweise mit ortstypischem Fachwerk, die rund um eine Dorfkirche zwischen Hügeln angeordnet sind. Mitten drin ein etwas heruntergekommenes Anwesen, bestehend aus zwei Gebäuden, von denen eines irgendwann mal ein kleiner Gasthof gewesen sein könnte. Hinter dem Anwesen ein Bauernhof und auf einer Wiese eine glotzende und grasende Kuhherde.
Hier ist die dezentrale und derzeitige Bleibe von etwa 20 Flüchtlingen: 16 junge Männer und vier erwachsene Frauen leben hier. Im dunklen, ehemaligen Gastraum treffen wir auf sie. Wir werden offen empfangen und als willkommene Abwechslung wahrgenommen. Es stinkt penetrant nach Kuhmist und Gülle. Von den altmodischen Lampen hängen gelbe Fliegenfallen, dick mit toten Fliegen bestückt.
Gerne stellen sich die BewohnerInnen unseren zahlreichen Fragen. Das größte Problem an Hubmersberg, so erfahren wir, ist die extreme Isolation. So gibt es im gesamten Ort kein Handyempfang. Wer dennoch telefonieren möchte, der muss zwei Kilometer spazieren, um Empfang zu erhalten. Außerdem gibt es keinen Festnetzanschluss im Haus. „Was sollen wir tun, wenn wir hier einen Notfall haben?“, fragt sich eine der Frauen. „Und wenn wir einen Arzt brauchen?“ Die einzige Möglichkeit zu telefonieren besteht im Nachbarhaus, indem der ehemalige Besitzer des Gasthofes, „Herr Michael“, wohnt und der mittlerweile die Funktion des Hausmeisters eingenommen hat. Ist Herr Michael nicht da oder hat er keine Lust, gibt es keinen Kontakt zur Außenwelt.
Die nächste Einkaufsmöglichkeit ist in vier Kilometern Entfernung. Die Verkehrsanbindung ist überschaubar. Es gibt einen Schulbus, der einmal am Tag fährt - leider zu spät für die Berufsschüler unter den Bewohnern. Zum Glück nimmt sie eine Lehrerin in ihrem Auto mit. Ansonsten bleibt ihnen keine andere Wahl und sie müssen stolze sieben Kilometer zum nächsten Bahnhof laufen. Wegen dieser bedrückenden Einsamkeit möchte der Großteil so schnell wie möglich weg von hier. Nur einige wenige haben sich mit der Situation arrangiert und genießen die Ruhe und wollen hierbleiben.
Mir wird Ilona vorgestellt. Die 53-jährige Frau aus Serbien leidet unter Asthma, Herzproblemen und hohem Blutdruck und hatte vor kurzen eine schwere Operation. Ihr 27-jähriger Sohn lebt auch in Bayern, in einem Flüchtlingslager in Pforzheim. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, zu ihrem Sohn ziehen zu dürfen. Er könnte sie unterstützen und sie wäre nicht mehr so allein und hilflos. Ilona lebt seit zwei Monaten hier in Hubmersberg. Vorher hat sie sieben Tage in einer Garage in Zirndorf gelebt. Die Situation hier treibt sie in die Verzweiflung. Sie ist depressiv und ist auf die Einnahme von Anti-Depressiva angewiesen. Sie sitzt hier fest. Aufgrund ihrer schlechten Verfassung verbringt sie ihre Tage sitzend auf einer Bank vor dem Haus. Wenn die Sonne scheint kann sie aufgrund ihres Asthmas das Haus nicht verlassen. Sie kann nicht selbst Einkaufen gehen, weil sie die vier Kilometer zum Supermarkt nicht schafft. Ihre Einkäufe erledigt eine Mitbewohnerin. Während Ilona mir ihre Probleme schildert, wird sie immer verzweifelter und beginnt zu weinen und schüttelt sich dabei. Plötzlich platzt es aus ihr heraus: „Hier ist tot. Das ist eine tote Welt hier".