Rottenburg

Fahrräder für alle VALESKA (Flüchtlingslager Rottenburg), Mittwoch 08.10.2014, 16:00 Uhr: Am Nachmittag erreichen wir Rottenburg. Von Fotoaufnahmen kennen wir die dezentrale Unterkunft nahe Landshut bereits. Vor ca. einem Monat wurde in dem unteren Gebäudeteil eine Notunterbringung hergerichtet, weil der Gemeinde kurzfristig gemeldet wurde, dass 20 Geflüchtete aufzunehmen seien. Auf den Bildern waren Feldbetten in Fünferreihen zu sehen, getrennt durch mit Planen abgehängte Bauzäune. Als Sichtschutz für die Schaufensterfront der Halle dienten Plakate. Außerdem waren katastrophale sanitäre Anlagen zu sehen und  Schimmel an den Wänden. Die 18 Männer und zwei Frauen, die am Abend in Rottenburg ankamen, sollten in diesem Gebäude nun zusätzlich untergebracht werden. Bei unserer Ankunft stehen in der Halle im Erdgeschoss nur noch die zusammengeklappten Feldbetten und einige Fahrräder. Die Neuankommenden wurden mittlerweile auf die Zimmer des Hauses verteilt oder in andere Unterkünfte geschickt. Die ersten Bewohner_innen kamen in diese Unterkunft vor drei Jahren. Später zeigt uns einer der Langzeitbewohner sein Zimmer. Er teilt es sich mit einem weiteren Mann. Es ist stickig - ein zu öffnendes Fenster gibt es hier nicht, das wenige Tageslicht dringt durch Glasbausteine ins Zimmer. Zum Gang abgetrennt ist dieser Raum durch Holzfaserplatten - allerdings erst seit wenigen Wochen, denn davor dienten Metallspinte als Sichtschutz und „Zimmerwand". Er ist Journalist. Seit drei Jahren wohnt er nun hier - eine Auszugserlaubnis hat er nicht. Auch sein Freund hat gute zwei Jahre auf eine Antwort vom Bundesamt gewartet. Er sagt: „Wenn uns die Regierung hier nicht haben will, dann sollen sie es uns gleich sagen, dann wissen wir woran wir sind und können weiter - irgendwohin um endlich zu leben.“ Aber nach zwei, drei oder mehr Jahren in völliger Ungewissheit und Nichtstunkönnen sind alle Hoffnungen zerstört. Die Menschen zerbrechen an der Ungewissheit und dem Gefühl, hier nicht willkommen zu sein. "Schlafen, essen, schlafen…. Das ist kein Leben. Wir sind junge Männer und wollen arbeiten. Wir wollen ein normales Leben und wir wollen wissen, wie es weitergeht." Er zeigt uns einen ganzen Beutel voller Medikamente. Gegen Kopfschmerzen, gegen Schlafstörungen, gegen Angstattacken. Der Mann ist traumatisiert. Er hat im Bürgerkrieg seine ganze Familie verloren. Jetzt kann er nicht arbeiten, einen Deutschkurs konnte er in den vergangenen drei Jahren ebenfalls nicht besuchen. Stattdessen beschäftigen ihn hier nun den ganzen Tag die quälenden Gedanken an die erlebten Gewalterfahrungen und die Trauer über den Verlust seiner Familie. Und die Ungewissheit. Wir sehen ein Zimmer mit etwa 12 qm, in dem drei erwachsene Männer wohnen. In manchen anderen Zimmer gibt es hingegen mehr Platz. Die dreißig männlichen Bewohner teilen sich eine Toilette im Wohnbereich und eine funktionierende Dusche. Im Gespräch mit den Bewohnern wird uns erzählt, dass sie morgens in einer Schlange stehen, um zu duschen. Die neugebauten Holzfaserwände haben sie selbst gestrichen, auch eine Internetverbindung haben sich die Bewohner gemeinsam von ihrem Taschengeld eingerichtet. Als wir uns gerade mit einigen Bewohnern in den Gemeinschaftsraum setzen, überrascht uns der Besuch des Bürgermeisters Alfred Holzner. Zur Begrüßung fragt er uns, wieso er nicht über unseren Besuch informiert sei. Der Eigentümer hätte informiert werden müssen. Informiert haben wir die Bewohner_innen der Unterkunft. Schließlich setzt er sich in unsere Runde und beginnt uns über die Notunterbringung von vor einem Monat aufzuklären. Die kurzfristige Meldung von der Regierung über die Ankunft und die mangelnden Räumlichkeiten hätten das Notlager im Erdgeschoss erforderlich gemacht. Es habe keine andere Unterbringungsmöglichkeit gegeben. Er erzählt uns außerdem von dem Engagement der Stadt in der Unterkunft, so erhalte jeder Bewohner hier ein Fahrrad.